LIV
Der Wind fährt mir eisig unter den Parka und zerrt an meinem offenen Haar wie eine Stahlfaust. Obwohl die Kälte mich nach und nach erstarren lässt, wage ich es nicht mich von der Stelle zu
bewegen. Noch tiefer drücke ich mich gegen die helle Wand des Leuchtturms, in der Hoffnung ein wenig Ruhe vor dem äußerlichen und innerlichen Sturm in seinem Windschatten zu finden. Mein Blick
gleitet suchend die endlos erscheinende, fast von der Dunkelheit verschluckte Seepromenade herunter. Doch zu dieser Uhrzeit und bei einem aufziehenden Sturm sind kaum noch Passanten unterwegs.
Mittlerweile harre ich mehr als eine Stunde hier in der eisigen Luft aus. Meine Finger sind längst taub, ebenso wie mein Gesicht. Was ist, wenn er nicht kommt? Wenn sie ihn erwischt haben? Allein
der Gedanke beschleunigt meinen Puls in einer Weise, die mir Unwohlsein beschert. Einen winzigen Moment erlaube ich es mir, mich gegen das Mauerwerk zu lehnen und die Augen zu schließen. Er hat
es geschafft, Liv. Du musst daran glauben. Ein Mann wie Romeo hat sieben Leben, wie eine Katze. In Endlosschleife wiederhole ich stumm diese Worte, nur begleitet von dem Rauschen des Meeres. Im
zuverlässigen Tosen brechen sich die Wellen unten am Strand. Der Wind trägt die Gischt bis zur Promenade herauf. Wie feinster Staub benetzt sie mein Haar und mein Gesicht. Ich hebe die Lider,
drehe den Kopf nach links und versuche irgendwo in der Schwärze dort unten am Ufer Romeo auszumachen. Seine hochgewachsene, geschmeidige Gestalt, die langsam aber sicher auf mich zukommt ... Doch
da ist nicht der Hauch eines Schattens, der sich aus der Finsternis erhebt und nähertritt. Mit einem tiefen Seufzen richte ich den Blick in die andere Richtung, jenem Bereich, der bei Tage von
geschäftigem Treiben bevölkert ist und nun nur noch von der stillen, weihnachtlichen Beleuchtung gesäumt wird. Auch wenn die Läden geschlossen sind, so flanieren noch vereinzelt Fußgänger durch
die Straßen. Doch niemand scheint die Statur und Präsenz des Mannes zu besitzen, nachdem ich so verzweifelt Ausschau halte. Was ist, wenn er nicht zurückkehrt?
Ich schlucke mühsam an diesem Gedanken. Letztlich kann es mir gleichgültig sein, er ist ein Fremder, ich kenne ihn kaum ... Aber es ist mir alles andere als gleichgültig. Ich weiß nicht, wer er
ist oder was er darstellt. Mehr denn je bin ich überzeugt, dass er dem organisierten Verbrechen angehört. Aber der Gedanke, jemand könne ihm Leid zugefügt, oder gar das Leben geraubt haben, ist
schier unerträglich für mich. Verzweifelt versuche ich die grausamen Bilder, die sich mir unweigerlich aufdrängen zu bannen. Es ist nicht unmöglich, dass er entkommen konnte, versuche ich mir
einzureden. Aber warum braucht er dann so lange? Wenn er wirklich entkommen ist, dann müsste er längst hier vor Ort sein, oder nicht? Meine Gedanken kreisen unaufhörlich, springen von Romeo zu
dem Mann, der kurz nach Romeos Verlassen die Verfolgung aufgenommen hat. Auch wenn er mir keinerlei Beachtung geschenkt hat, so werde ich nie den Ausdruck in seinen harten, fast nachtschwarzen
Augen vergessen, mit denen er Romeo fixierte. Da lag nichts als blanker Hass auf der schimmernden Iris. Nie zuvor habe ich dieses intensive Gefühl vergleichbar tief in den Augen eines anderen
Menschen gesehen. Wie stark die Krankheit Romeo auch äußerlich verändert haben mag, wie trickreich seine äußerliche Aufmachung auch war, es hat nicht dazu beigetragen diesen Mann, dessen Gesicht
tiefe Aknenarben auf den Wagen trug und ihm noch mehr das Aussehen eines Mörders verlieh, auch nur im Ansatz zu täuschen. Während ich zitternd und betend hinter dem Weinregal ausharrte, sah ich,
wie der Fremde ohne Zögern die Verfolgung aufnahm, ohnmächtig gefangen in der Situation. Nicht eine Sekunde hat er an Romeos Identität gezweifelt ...
„Liv, Gott sei Dank.“ Seine Hand berührt meine Schulter, bevor ich den rauen Klang seiner Stimme vernehme. Der milde Akzent in den Worten streichelt mich wie die zärtliche Liebkosung eines
Geliebten. Ich fahre herum und begegne seinem ernsten Blick. Nie zuvor habe ich eine vergleichbare Erleichterung gespürt, als in dem Augenblick, da ich seine Unversehrtheit wahrnehme.
Sekundenlang sehen wir uns schweigend in die Augen. Es gibt keine Worte die ausdrücken könnten was die stillen Empfindungen zwischen uns spiegeln. Mit einem tiefen Atemzug legt er seine warme
Hand in meinen Nacken, die andere schließt sich um meine Taille und zieht mich fest an seinen Körper. Den Bruchteil einer Sekunde zögere ich dem starken Gefühl in mir nachzugeben, doch seine
Wärme, seine Kraft, der mittlerweile vertraute Duft verlocken regelrecht dazu mich fallen zu lassen und so sinke ich schwer gegen seine Brust, das Gesicht in dem rauen Stoff seiner grauen
Wolljacke vergrabend.
„Bis ich dich hier stehen sah, habe ich befürchtet, sie hätten dich möglicherweise ...“ Er schweigt über den Rest der Worte, und presst stattdessen die Lippen fest auf meinen Scheitel. Der Wind
scheint in seinen Armen zu verstummen, ebenso wie die grellen Lichter, die den Leuchtturm anstrahlen schlagartig verblassen. Alles was ich spüre, ist seine Nähe, die uneidlich heilsam und
friedvoll ist. Etwas, dass ich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gespürt habe ... Nein, etwas dass ich nie zuvor in dieser Intensität gespürt habe. Niemals hat ein Mann mich auf diese Weise
gehalten, mit einer Kraft, die nur aus tiefer Sorge erwachsen kann. Mit einer Wärme, die mehr preisgibt als die körperliche Temperatur. Mit einer Zärtlichkeit, die etwas in mir anrührt, dass ich
nie in der Lage war zu spüren.
„Du bist eiskalt,“ flüstert er leise, umfasst mein Gesicht und hebt es an. In den dunklen Tiefen auf seiner Iris schimmert Erleichterung, dicht gepaart mit Unruhe und tiefer Zerrissenheit. Wir
wissen beide, dass diese Schlacht heute ein Sieg war, aber dass der Krieg dadurch noch lange nicht gewonnen ist. Wenngleich ich nicht im geringsten ahne, gegen welchen Feind und an welcher Front
wir kämpfen. Ich hebe eine Hand und berühre mit den Fingern behutsam eine der Narben in seinem Gesicht, welche der letzte Mordanschlag auf ihn, gleich einer mahnenden Erinnerung zurückgelassen
hat. Sichelförmig zieht sie sich oberhalb des Bartwuchses über die linke Wange. Ich spüre die Wärme seiner Haut auf der meinen, spüre seinen Atem der sanft über meine Züge streicht und für einen
stillen Moment lang verlieren wir uns in dem anderen. Sein Blick besitzt eine Tiefe, die auf den Grund meiner Seele schaut und ich lasse es zu, verspüre nicht das Bedürfnis, all den Kummer der
dort begraben liegt vor ihm zu verbergen. Ebenso erkenne ich einen Schmerz in seinen Augen der wild, grob und ungezügelt ist. Der den Hass in ihm nährt, aber auch ein anderes Gefühl. Ein Gefühl,
dass mich die Intensität seiner Nähe spüren lässt, welches sich dunkel und ureigen aus seinem Sein erhebt und ein warmes Feuer mit sich trägt. Es scheint mich fast magisch noch dichter an ihn zu
ziehen. Während er langsam den Kopf senkt, spüre ich, wie sich jede Faser meines Leibes in die sehnige Muskulatur des seinen fügt, so als seien unsere Körper aus einer Masse geschmiedet und einst
auf brutale Art voneinander getrennt worden, nur um jetzt, in diesem einzigartigen Moment zueinanderzufinden. Ein rauer Laut löst sich aus Romeos Brust, als er den Kopf senkt und mit einer
Sanftheit meine Lippen berührt, die mich unweigerlich erzittern lässt. So als fürchte er, der zunehmende Wind könne mich ihm entreißen, gleitet seine Hand höher in meinen Rücken, drängt meinen
Körper noch enger an seine Statur, so dass ich nicht mehr zu sagen vermag, wo ich beginne und Romeo endet. Es ist wie die allererste Begegnung zwischen uns. Auch damals, als er sterbend in der
Gasse lag, habe ich diese Einigkeit gespürt, dieses Verschmelzen, dass befremdlich und vertraut gleichermaßen anmutete. Meine Gedanken verflüchtigen sich unter seinen Lippen, die meinen Mund
erkunden, ihn behutsam öffnen. Sein Kuss steigert sich in ein Spiel aus Verlangen und Verzweiflung. Fast haftet ihm etwas Rohes, Dürstendes an. Zeitgleich salbt er dies Schroffheit mit einer
Zärtlichkeit, die mich leise Aufstöhnen und still um mehr betteln lässt. Tief in mir beginnt sich eine Wärme auszubreiten, deren Fehlen ich mir nie bewusst gewesen bin und nach der ich mich doch
zu verzehren scheine. Ich spüre seine Finger, die er sanft unter meinen Haaransatz schiebt, seine Hand, die warm und locker meinen Nacken umspannt, ohne dass er den Kuss unterbricht. Es ist als
spreche er zu mir, allein durch die Vereinigung unserer Lippen. All die Verzweiflung der letzten Stunden finde ich darin, ebenso wie die Sorge und den bedingungslosen Wunsch zu vergessen, den
Moment zu leben, den Augenblick zu atmen.
Erst als ein Passant hinter uns gegen eine Getränkedose tritt, die lautscheppernd gegen das Mauerwerk des Leuchtturms prallt, erwachen wir ganz allmählich aus diesem berauschenden Zustand, kehren
zögernd zurück in die Realität. Als Romeo den Kopf hebt, spüre ich im selben Augenblick den scharfen Wind, der mir das Haar aus dem Gesicht zerrt und ein Brausen in meinen Ohren hinterlässt. Ein,
zwei Schritte tritt er zurück, ohne mich aus den Augen zu lassen, ohne sich gänzlich von mir zu lösen, doch das reicht aus, mich die Kälte in voller Intensität spüren zu lassen. Ein Beben
durchläuft meinen Körper, dass sich nicht mehr kontrollieren lässt und dass zusätzlich dem Schock der vergangenen Stunden geschuldet sein muss. Er hebt die Hand und berührt kurz mein Gesicht
bevor er nach der meinen greift und sie mit festem Griff umschließt.
„Na komm, ich bringe dich heim.“
(Das wunderbare Lied "Open up your Eyes" von der Band "Daughtry" inspirierte mich zu dieser Geschichte!)
Der Spiegel zeigte ihr ein fast fremdes Gesicht.
War das noch immer sie? Franziska, die junge Tänzerin, die an der Staatsoper in Hamburg ein Engagement gefunden hatte? Noch heute, fünfzig Jahre später, erschien es ihr wie ein Wunder. Ein müdes
Lächeln zog sich über die matten Züge. Na ja, jung war sie nun wirklich nicht mehr. Mit zweiundsiebzig Jahren hatte sie das biblische Alter bereits überschritten und näherte sich einer Greisin
an.
Mit dem Kamm fuhr sie sich durch die, noch immer dichten Silberlocken und fasste sie im Nacken mit einer schlichten Spange zusammen.
Würde er sie überhaupt erkennen? Dreißig Jahre glichen einer Ewigkeit, betrachtete man die Vergänglichkeit des Menschen.
Ihr Herz schlug einen ungewohnt schnellen Takt. All die Jahre war sie sich so sicher gewesen. Nicht der geringste Zweifel hatte in ihr Nährboden gefunden, bezüglich der Gewissheit, dass er sie
auch nach hundert Jahren noch unter tausend anderen Frauen entdecken würde. Doch nun, da ihre Zusammenkunft sich nicht mehr über Tage, geschweige denn Jahre ausdehnte, sondern er nur noch wenige
Stunden auf sich warten ließ, überkam sie auf ein mal Unsicherheit.
Sie griff nach dem großen Puderpinsel und verteilte ein wenig Rouge auf den Wangen. Ein dezentes Make-up, dass hatte er immer geliebt. Sie durfte also nicht übertreiben, wenn bisweilen ihre
faltig anmutende Haut sie auch dazu hinreißen wollte. Ja, faltig war sie geworden. Die Jahre und der Kummer waren nicht spurlos an ihr vorbei gegangen. Mit zitternden Händen legte sie ein wenig
Wimperntusche an und einen Hauch Lippenstift auf.
Na siehst du, altes Mädchen, so holst du locker zehn Jahre raus, warf sie lachend ihrem Spiegelbild entgegen. Die Vorfreude auf das Wiedersehen ließ es zu, dass sie sich leichter, ja,
beschwingter fühlte. Die Schwere ihrer Glieder schien für Augenblicke zu weichen, die Atmung ging flach aber leicht. Nicht zu glauben, dass ihre letzte Begegnung tatsächlich schon dreiunddreißig
Jahre zurücklag.
In ihrer Erinnerung war er noch immer jung und schön. Der starke Mann, an dessen Schulter sie sich lehnen konnte.
Er hatte damals das Vorstellungsgespräch an der Staatsoper mit ihr geführt. Später dann, hatte Jonathan ihr anvertraut, dass er ihr schon bei dem ersten Tanz verfallen war. Und sie?
Sie hatte sich bei dem tiefen Blick in seine blauen Augen unsterblich in diesen äußerst charmanten Gentleman verliebt.
Sich erhebend, spürte sie, dass sie ein wenig wackelig auf den Beinen war, denn auch die Füße boten nicht denselben Halt wie noch fünfzig Jahre zuvor. Franziska trat an den Kleiderschrank. Hinter
der spiegelverglasten Tür verbargen sich Abendroben, schützend in Zellophan verpackt. Zielstrebig griff sie das dunkelblaue Kleid mit der schlanken Silhouette heraus. Sie wusste, das würde ihm
gefallen. Er hatte es immer geliebt, wenn sie die Kleidung figurbetont trug.
Leichter Schwindel erfasste sie, bei dem Gedanken, dass es sich nur noch um wenige Stunden handelte, bis sie einander wieder trafen. Die Aufregung bringt dich noch um, dachte sie lächelnd, als
sie die Plastikfolie zerriss und das nachtblaue Gewand vom Bügel nahm.
Vorsichtig berührte sie den edlen Stoff. Ja, genau das Richtige, für einen solch festlichen Anlass.
Gott sei Dank war das Kleid vorn zu knöpfen, so war sie nicht auf fremde Hilfe angewiesen, wenngleich ihre steifen Finger sich ein wenig schwertaten. Sie hatte ja Zeit. Niemand trieb sie zur Eile
und Jonathan hatte fest versprochen zu warten. Egal wie lange sie brauchte. Darauf vertraute sie. Seine Versprechen hatte er stets gehalten.
Bis auf ein Mal erinnerte sie sich…
Endlich hatte sie auch den letzten der zwölf Schließen durch die dafür vorgesehene Öffnung geschoben, als sie den Kopf hob und ein weiteres Mal ihr Spiegelbild betrachtete. Ja, so konnte sie sich
durchaus sehen lassen. Ein wenig eng wurde ihr um die Brust bei dem Gedanken, dass Jonathan in ihr nicht länger die junge Tänzerin, sondern eine alte Frau sehen würde. Eine Frau, der das Leben
tiefe Wunden zugefügt hatte, die auch an ihrem Äußeren nicht spurlos vorbei gegangen waren.
Mit den Händen strich sie imaginäre Falten aus dem engliegenden Rock und drehte sich leicht vor der reflektierenden Oberfläche.
Und die größte Narbe, lieber Jonathan, die hast du mir zugefügt, flüsterte sie der Frau im Spiegel zu.
Bis heute hatte sie sich kaum davon erholt. Damals hatte er ihr die Ehe versprochen. Er hatte vor Gott geschworen, mit ihr alt werden zu wollen. Das einzige Versprechen, an dem er nicht
festgehalten hatte…
Franziska wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Das lag lang zurück. Auch, wenn sie damals entsetz, wütend, ja regelrecht erstarrt gewesen war, so hatten sie die Jahre doch Vergebung
gelehrt. Manchmal plante das Leben eben anders, als der Mensch selbst.
Mit dem Daumen berührte sie den breiten Goldreif an ihrem Ringfinger. Trotz der brutalen Trennung, vor mehr als dreißig Jahren, hatte sie Jonathan die Treue gehalten. Für sie gab es nur diesen
Mann, ihm hatte sie ihr Herz geschenkt, auf ewig. Und sie hatte darauf vertraut, dass die Zeit sie wieder einen würde, irgendwann.
Ein leichtes Zittern befiel ihre Glieder, als ihr klar wurde, dass die Minuten nun rasend schnell verrannen. Nicht mehr lange und sie würde ihrem Geliebten endlich wieder gegenüber stehen.
Ein schmerzliches Sehnen zog durch ihre Brust. Sie konnte es kaum erwarten ihn in die Arme zu schließen, ihn zu küssen…
Aber wäre auch die alte Vertrautheit noch da, nach all den Jahren? Ihre stärkste Waffe im Kampf gegen die Zeit?
Leise Angst nagte an ihr, fraß sich durch das dünne Gewebe der Sicherheit und des Vertrauens.
„Nun, nun, Franziska, “ warf sie ihrem Spiegelbild entgegen, „Du willst doch nicht so kurz vorm Ziel schlapp machen, altes Mädchen, oder?“
Nein, sicher nicht. Sie hatte ihr Versprechen gegebenen, ebenso wie Jonathan.
„Ich warte gleich hinter der Tür auf dich“, hatte er geflüstert. „Zögere nicht einzutreten, Liebste.“
Zögerte sie etwa jetzt schon, wo sie noch nicht mal vor dem Einlass stand?
Blödsinn, dreißig Jahre Sicherheit ließen sich nicht durch ein paar Sekunden Zweifel vernichten.
Sie nahm noch ein paar tiefe Atemzüge, in dem Bewusstsein, dass sich die Dinge in wenigen Stunden gänzlich verändern würden. Dann legte sie sich entspannt auf das Bett.
Ein wenig Zeit blieb noch.
*
Als sie die Augen aufschlug, nahm sie als erstes das veränderte Licht wahr. Die Sonne fiel golden und warm durch die Vorhänge in den Raum und flutete ihn mit Glanz. Eine Einladung an das Leben,
durchfuhr es sie mit leiser Aufregung. Eine Einladung sich zu erheben und der Zukunft zu begegnen, völlig ohne Angst und Schmerz, ohne Zweifel und Leid.
Und war es nicht genau das, was sie gewollt hatte. In all den Jahren ohne Jonathan hatte sie allein auf diesen Tag hingearbeitet. Vorsichtig, um ihrer alten Glieder willen, erhob sie sich und
bemerkte dabei, dass ihr das Aufstehen auf einmal viel leichter fiel. Dennoch verspürte sie vor Aufregung leichte Übelkeit, so dass sie einen Augenblick still auf der Bettkante verharrte.
Und wenn er nicht gekommen war? Vielleicht gab es längst eine Andere… Franziska wandte den Blick zum Fenster und beobachtete einen Vogel auf der Fensterbank, der regelrecht im goldenen Licht zu
baden schien. Oder war er aus Gold? Er hob den Kopf und schien ihrem Blick zu begegnen. Im selben Moment begann er ein Lied zu spielen, dessen Schönheit und Reinheit alles bisher Gehörte in den
Schatten stellte. Niemals zuvor war ihr ein solch lieblicher Gesang begegnet.
Wag es, sprach sie sich selbst Mut zu. Mach dich auf und schau nach, ob er da ist. Schließlich beruht auch seine Gewissheit nur auf Vertrauen. Sich erhebend, entging ihr nicht, dass sie am ganzen
Körper zitterte. Angst und Freude bildeten ein explosives Gemisch in ihrem Innern, trieben sie aber auch zeitgleich an, einen Schritt vor den anderen zu setzen.
Als ihre Finger das kühle Metall der Türklinke berührten, verharrte sie zögernd.
Was, wenn er doch nicht da war? Was wenn…
Es gelang ihr nicht, den Gedanken zu Ende zu führen, denn im selben Moment spürte sie den Gegendruck. Jemand betätigte auf der anderen Seite ebenfalls den Knauf. Ihr Herz stockte.
Konnte es sein… Konnte es tatsächlich sein…
Mit angehaltenem Atem starrte sie auf den schweren Verschlag, wie er ganz langsam aufschwang…
Und dann sah sie ihn. Ein Gefühl reinster und tiefster Freude, wie sie es nie zuvor erlebt hatte, durchflutete ihren Körper, gepaart mit der tiefen Liebe, die sie sich all die Jahre bewahrt
hatte.
„Jonathan“, hauchte sie lautlos und fiel in seine Arme, so als hätte es dreiunddreißig Jahre Trennung nicht gegeben. Als sei er nie fort gewesen. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde zweifeln
können, er käme nicht? Er, ihr Fels in der Brandung. Der einzige Mensch auf dessen Zuverlässigkeit sie hatte Burgen bauen können.
Und er umfing sie mit seinen starken Armen, drückte ihr tränenüberströmtes Gesicht an seine Brust und flüsterte rau:
„Da bist du endlich, Liebste. So lange warte ich schon auf dich.“ Sie löste sich gerade soweit von ihm, dass sie seine feingemeißelten Züge erkennen konnte. Noch immer jung und schön. Wie
befürchtet, hatte die Zeit ihm nichts anhaben können. Fast augenblicklich berührte sie beschämt mit den Fingerspitzen ihr Gesicht.
„Sieh nur, wie alt ich geworden bin, Jonathan, wahrlich kein schöner Anblick mehr, neben einem solch attraktiven Mann wie du es bist…“ Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und brachte sie
mit seinem Mund zum Schweigen. Zärtlich und doch fordernd waren seine Lippen. Auch nach der langen Zeit hatte sein Kuss sich nicht verändert, war eher noch hingebungsvoller geworden. Atemlos
lösten sie sich schließlich voneinander. Behutsam wischte er die Tränen von ihren Wangen und lächelte dieses vertraute Lächeln, das so tief in ihr verankert war.
„Du bist und warst immer wunderschön, Franziska. Zeit ist ein irdisches Element, dessen Vergänglichkeit hier keinen Bestand hat.“ Er zog sie wieder an sich und küsste sie zärtlich auf das
Haar.
„Willkommen, in deinem wahren Leben. Dem Leben, das befreit ist von Angst und Schmerz.“ Franziska sah ihn verständnislos an. So ergriff er ihre Hand, die sich seltsam jung und kraftvoll in der
seinen anfühlte, und führte sie zurück in die Schlafkammer, vor jenem Spiegel, vor dem sie sich noch Stunden zuvor hergerichtet hatte.
„Sieh nur, wie schön du bist.“ Die kräftigen Hände auf ihre Schultern gelegt, drehte er sie so, dass sie unwillkürlich ihrem Spiegelbild begegnen musste. Doch das wollte sie nicht. Sie wollte
nicht sehen, wie der Zahn der Zeit ihr zugesetzt hatte, während ihr Mann jung und schön…
„Aber…, das kann doch gar nicht sein...“
Sie trug das dunkle Kleid, welches sie am Abend extra für ihn angelegt hatte. Nur schien der Stoff sich jetzt an die sanften, vollkommenen Kurven zu schmiegen, die sie vielleicht mit dreißig
besessen hatte. Ein leiser Aufschrei entfuhr ihr, als sie das dunkle Haar berührte, welches in sanften Wellen bis auf die Schultern fiel. Noch keine Falte brach die Glätte ihrer Gesichtszüge. Es
hatte fast den Anschein, als sei sie in eine Zeitmaschine gestiegen … oder schlimmer noch… Mit einem Ruck wandte sie sich um und begegnete den sanften blauen Augen ihres Mannes.
„Träume ich, Jonathan? Bitte sag mir, dass ich nicht träume, “ flehte sie leise, „Sonst will ich nie wieder erwachen.“ Schluchzend warf sie sich in seine Arme. Spürte das raue Material des Anzugs
an ihrer Wange und dachte augenblicklich, es ist wie früher. Sein Geruch, seine Wärme. Die sanften Berührungen, sein heiseres Lachen. Niemals wieder, wollte sie dies verlieren. Viel zu lange
hatte sie all diese Dinge entbehrt, darauf verzichten müssen, in der Hoffnung, dass dieser Tag, dieser Moment, tatsächlich irgendwann einmal wahr wurde.
Jonathan schob sie so weit von sich, dass er ihr in die Augen schauen konnte. Behutsam strich er eine Strähne ihres dunklen Haares zurück, bevor sein Daumen zärtlich über ihre Wange strich.
„Du träumst nicht, Liebes,“ sagte er sanft und ungeahnte Freude begann sich in Franziskas Körper auszubreiten.
„Vor dreiunddreißig Jahren, als ich in deinen Armen starb, habe ich dir versprochen, dich hinter der Tür des Todes in Empfang zu nehmen.“ Liebevoll hauchte er einen Kuss auf ihre Stirn, als er
hinzufügte, „Und heute ist der Tag gekommen, da ich mein Versprechen in die Tat umsetze. Von nun an Franziska, gibt es nichts und niemanden der uns trennen kann, denn uns gehört die
Ewigkeit.“
Sie ließ es zu, dass er sie an seine Brust zog, mit dem stummen Versprechen, sie nie wieder loszulassen.
* Ende *